Unser Kollege Tobias Kosiba gibt spannende Einblicke in die Welt von Virtual, Augmented und Assisted Reality und erzählt im Expertentalk, wie sich neue Technologien unserem Arbeitsalltag annähern.
Als ich im Sommer 2020 meine Tätigkeit als System Engineer bei URANO aufnahm, begegnete ich in meiner Kundenumgebung zunächst dem klassischen Bild eines Arbeitsplatzes: ein Schreibtisch, darauf zwei Monitore und ein Notebook. Wo es sonst stetig gefüllte Meetingräume gab, fand man durch die damals herrschende Pandemie nichts weiter vor als gähnende Leere. Microsoft Teams, Zoom und weitere Plattformen boomten regelrecht durch die Notwendigkeit des Abstands – und doch sollte hier noch einiges auf mich zukommen, denn...
Heute, im Sommer 2023, sieht mein Arbeitstag beim Kunden wie folgt aus:
Morgens treffe ich mich mit Kolleg*innen aus Singapur in den Anden zum Meeting, mittags rede ich beim Lunch mit Teammitgliedern über aktuelle Projektschritte an einer transparenten, schwebenden Tafel und am Nachmittag socialize ich nach dem Meeting mit dem Team aus den USA und Argentinien bei einem Kaffee auf einer Dachterrasse – im Weltall.
Zugegeben, so abstrus sich dieser Tagesablauf anhören mag, so ist es doch eine immer greifbarer werdende Realität – die Rede ist von virtueller, gar erweiterter Realität.
Geschichtlicher Hintergrund
Im Jahre 1956 erstmalig geprägt durch das „Sensorama" des Filmemachers Morton Heilig, der damit das „Cinema of the Future" zu definieren wagte, beschreibt der Begriff der virtuellen Realität (VR) ein simuliertes, dreidimensionales Bild, welches das Sichtfeld der Anwender*innen mit einer interaktiven Umgebung ausfüllt. Dabei verlässt man die physische Welt und betritt ein Konstrukt aus Vektoren und Texturen. Anders verhält es sich bei der erweiterten Realität (AR), bei welcher das bestehende „natürliche" Sichtfeld um virtuelle Objekte ergänzt wird. Hier ist man also weiterhin mit seiner Umgebung vertraut.
Klassische Schulungen vor Ort erfordern ein höheres Maß an Kosten und Zeit
Betrachtet man beispielsweise technische Schulungen vor Ort, so kommen hier viele zeit- und kostenintensive Faktoren ins Spiel. Beispielsweise müssen Trainer*innen und Teilnehmer*innen anreisen und oft sogar übernachten. Je nach Schulungsinhalt bedarf es zusätzlichen Materials, welches angefertigt oder ausgedruckt werden muss. Maschinen und Arbeitsplätze müssen allein für diesen Zweck bereitgestellt und aufgebaut werden. Die Zeit ist meist begrenzt und lässt Nachholtermine oft erst viel später zu.
Virtuelle Methoden reduzieren ökologischen Fußabdruck
Wird die Schulung nun auf die virtuelle Ebene übertragen, so hat das einen positiven Effekt auf die genannten Faktoren. Beispielsweise werden Maschinen und Begleitmaterialen als virtuelle
Objekte angelegt und lassen sich somit unendliche Male verwenden. Die Schulung wird ortsunabhängig, indem man den Teilnehmenden mit einem entsprechenden Gerät, wie beispielsweise einer
VR-Brille, ausstattet.
Nicht nur der zeitliche Aufwand des Reisens wird reduziert, sondern auch der ökologische Fußabdruck, da man sich nicht mal mehr aus den eigenen vier Wänden fortbewegen muss, um den Umgang mit
einer Maschine zu lernen.
Alles in allem bieten VR und AR die Möglichkeit, komplexe sowie kostenintensive Abläufe effizienter wie auch nachhaltiger zu gestalten.
Gamification besonders beliebt für Trainings
Am prägnantesten ist hier allerdings der Prozess der sogenannten Gamification. Ganz im Sinne des „Homo Ludens* (lat. der spielende Mensch"), welches den Lernerfolg durch „spielerisches Lernen" nicht nur schneller eintreten lässt, sondern gleichermaßen effizienter ausfällt. Während es eher mühselig scheint, Trainer*innen nach Ablenkungen weiter aufmerksam zuzuhören und die Theorie in die Praxis umzusetzen, wird ein Objekt durch die Interaktion auf virtueller Ebene wesentlich nachhaltiger aufgefasst und Erlerntes direkt angewandt – ein kurzer Signalton und ein grünes Häkchen machen Lust auf das nächste Level, es kommt zur „Gamification“ des Ablaufs.
Auch erweiterte Realität bringt Innovation für die Arbeitswelt
Ähnlich verhält es sich bei der Anwendung von erweiterter Realität (AR). Während die Kommissionierung von Waren auf Basis eines Klemmbretts monoton wirkt und einen nachlassenden Fokus wie auch Fehler zur Folge hat, lässt sich über erweiterte Realität nach Scannen des Barcodes am Artikel sofort bestimmen, ob dieser zur Bestellung gehört, wenn ein grüner Kasten abgebildet wird. Auch lassen sich über erweiterte Realität Szenarien abbilden, wonach Objekte in das Sichtfeld der Nutzer*innen eingeblendet werden und diese feststellen können, ob ein gewünschter Zustand eingetroffen oder aber eine Korrektur vorzunehmen ist.
aR-Geräte ermöglichen Problem- und Lösungsfindung durch Ferndiagnose
Etwas weniger vertreten, aber nicht weniger relevant, ist die assistierende Realität (aR). Im Gegensatz zu AR/VR gibt es bei aR keine Veränderung der optischen und räumlichen Wahrnehmung. Man kann sich „über die Schulter“ gucken lassen. Als Beispiel genannt seien hier Geräte, wie die Navigator 520 mit einem Display und einer Kamera, die auf Augenhöhe oder knapp darunter fixiert werden. Diese ermöglichen es Personen, sich einen Vorgang zusammen mit ausführenden Techniker*innen anzusehen und unterstützen folglich bei der Problem- und Lösungsfindung.
aR punktet beim Umgang mit Dokumenten
Ebenfalls mit aR einhergehend ist die „hands-free“ Interaktion: Während man vorher papierbasiert oder über ein Notebook durch eine Anleitung stöberte, kann diese via aR direkt vor dem Auge platziert werden. Abläufe werden flüssiger, da man zum einen nicht stetig den Kopf bewegen oder das Werkzeug ablegen muss, um Anleitungsschritte durchzugehen. Zum anderen lässt sich ein aR-Gerät ausschließlich durch Sprachbefehle steuern und es reicht beispielsweise ein Befehl, um den gewünschten Passus eines Dokuments einblenden zu lassen.
Auch Dokumentationsprozesse profitieren stark von dieser Technologie, da das Gerät sieht, was auch die Anwender*innen sehen. Mit einem kurzen Befehl wird ein Bild in ein Sichtfeld aufgenommen. So gewinnt man in Konferenzen ein „virtuelles“ 4-Augen-Prinzip.
Wir sind erst am Anfang der Reise
Zwar gibt es immer mehr Unternehmen, welche in die Technologien investieren und ihre Workflows auf die Verwendung von VR/AR anpassen, jedoch befinden wir uns hier verhältnismäßig noch in den Kinderschuhen. Die Akzeptanz der Geräte als Werkzeuge für die tägliche Arbeit oder für Meetings ist noch immer relativ niedrig. Klassische Arbeitsmittel wie Notebooks oder Tablets bleiben präferiert – wenngleich auch diese bei ihrer erstmaligen Vorstellung gemischten Gefühlen ausgesetzt waren, bis aus „Technikspielzeug“ heutzutage ein tatsächliches Arbeitsgerät wurde. Während es bereits etliche Applikationen im VR/AR-Segment gibt, welche sich im betrieblichen Umfeld integrieren lassen, sind die meisten Geräte noch immer recht kostspielig. Mit der voranschreitenden Entwicklung ist es aber nur eine Frage der Zeit, bis genannte Hürden überwunden und die Geräte für die Verbraucher*innen erschwinglich werden. Nicht zuletzt ergeben sich auch zunehmend Geschäftsmodelle und Services, welche auf VR/AR basieren und teils aus bereits bestehenden Unternehmensbereichen hervorgehen und diese über kurz oder lang auch ablösen können.
Schlussendlich ergeben sich aus der Integration virtueller Elemente eine endlose Zahl an Möglichkeiten der Interaktion und Kooperation, der Skalierbarkeit von Trainings, wie auch neue Wege praxisbezogenen Lernens. Standardisierte Szenarien lassen sich virtuell abbilden, jederzeit wiederholen und Lernerfolge nachhaltig stärken. In jedem Fall dürfen wir gespannt sein, welche Überraschungen uns in diesem Segment noch erwarten, und, wie VR und AR in den kommenden Jahren wachsen, sodass auch die Grenzen menschlicher Wahrnehmung erweitert werden.
Tobias Kosiba
System Engineer bei URANO
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Engin Özkan (Dienstag, 05 September 2023 11:30)
Schöner Beitrag, weiter so Tobi!